Tino Panse
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Eine der wichtigsten Eigenschaften der Kunst ist es, auf Sachverhalte aufmerksam zu machen, die wir nicht wahrnehmen, die uns nicht auffallen und auf die sich im Normalfall unsere Konzentration nicht richtet. Dies setzt voraus, dass der Künstler sich selbst in seinen eingefahrenen Strukturen beobachtet und die Wahrnehmung seines Umfeldes außerhalb des Gewohnten geschärft hat. Seine Aufmerksamkeit richtet sich auf Sachverhalte, Objekte oder Ereignisse, die erst dann irritieren, wenn der Blickwinkel verschoben wird. Alltägliches wird so zu Außergewöhnlichem. Wie es dann zum So-noch-nicht-Gesehenen wird, ist eine der ersten Fragen, die sich der Künstler stellt.

Bei der Betrachtung stellt sich dann meist die Erkenntnis ein; Es hätte ja so auch jedem von uns auffallen können. Wenn all dies ohne Zeigefinger und mit Geist und Witz vorgetragen wird, sind weitere Bedingungen eines Kunstbegriffes erfüllt. Legt man diese Definition von Kunst zugrunde, so erfüllt der hier vorgestellte Debütant, Tino Panse, mit seinen Arbeiten alle Punkte, die ihm die Berufsbezeichnung Künstler zusprechen. Denn erst einmal ist die Ausstellung der Debütanten nichts anderes als eine öffentliche, noch im gesicherten Umfeld der Ausbildungsstätte, Lehrer und Kollegen stattfindende Präsentation, eine Überprüfung der Berufsfähigkeit.

Tino Panse hat vor seinem Studium bei Werner Pokorny, Anet van de Elzen, Anna Tretter und Udo Koch an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart eine Ausbildung als Holzbildhauer und Schreiner absolviert. Wir begegnen jedoch nicht, wie zu erwarten wäre, einem Holzbildhauer, sondern einem Künstler, der sich aller Medien bedient, nur nicht dem des Holzes. Es ist die Denk- und Arbeitsweise, die Tino Panse der handwerklichen Ausbildung entlehnt und für seine künstlerische Methode nutzt. Was kann von den Gedanken realisiert werden, was anschaulich gemacht werden, wie ist die Relation zwischen Kunstfertigkeit und Kunst in ein Gleichgewicht zu bringen? Welches Material ist geeignet, welches trägt in sich Tücken, so dass es sich nicht in Frage kommt? Dieser Gedankenprozess ist am Produkt nicht ablesbar, aber im Findungsprozess selbst ein ganz wesentlicher. Er ist der erste Arbeitsschritt nach der Themenfindung. Bei Tino Panse wird er mit der gleichen Sorgfalt belegt wie all die anderen Schritte auch.

Den roten Faden in seinem Werk finden wir folglich nicht bei der Materialwahl, auch nicht bei der Themenwahl. Das Charakteristische seiner Arbeiten ist die Methode, seine Fähigkeit, sich immer wieder einen Schritt neben sich selbst zu stellen und die eingefahrenen Wahrnehmungsstrukturen zu korrigieren. Er entwickelt Themen, die präzise strukturiert sind, so wie ein Handwerker eben arbeitet. Eine Erfahrung der Kunstbetrachtung lautet: Studiere erst genau die Arbeit, bevor der Titel zum Verständnis herangezogen wird. Bei Tino Panse können wir jedoch auch zuerst, ohne uns gleich eine Sichtweise zu verstellen, die Titel lesen. Sie sind Metaphern, die neugierig machen und bereits zu einer Interpretation einladen, aber nie den Blick auf die Arbeit verstellen.

Wohngeschwindigkeit, Klinkenputzen, Kuckuckshaus, Gewebeproben, Freiraumpflege besitzen eine gewisse Ambivalenz in ihrer Bedeutung. Der Witz ist in den Titeln wie in den Arbeiten nicht vordergründig, sondern hintersinnig. Nehmen wir zum Beispiel die Bildlegende Wohngeschwindigkeit. Großes Fragezeichen. Für sich betrachtet bedürfen die beiden Begriffe, die den Titel bilden, keiner Erläuterung. Aber was bedeuten sie in ihrer Zusammensetzung? Die Installation von 2004, die diesen Titel trägt, besteht aus 36 Fotos und drei Objekten. Der inhaltliche Ausgangspunkt basiert auf einem starken Gefühl, das uns allen bekannt ist. Gemeint ist die „Zeit zwischen den Jahren“. Dieser geläufige Begriff verweist auf ein Zeitbewusstsein, das sich extrem von dem Zeitgefühl der restlichen 360 Tage unterscheidet. Es sind die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr; für Tino Panse ein „Irgendetwaspasstnichtmitderzeitgefühl“. Unser alltäglicher Zeitrhythmus ist aus dem Takt, so kurz vor dem Jahreswechsel. Es stellen sich Fragen an die Vergangenheit und nach der Zukunft ein. Die Gegenwart steht dabei wie in einem zeitlosen Raum. Das „Gute-Vorsätze-für-das-neue-Jahr-fassen“ umschifft geschickt die Fragestellung: Hat sich überhaupt was verändert im zu Ende gehenden Jahr? Es ist eine Situation, in der man mehr Zeit in den eigenen vier Wänden verbringt und so den Maßstab der Veränderung oder vermeintlichen Unveränderbarkeit sensibilisiert beobachtet. In diesen eigenen vier Wänden stellt sich für Panse ein Gefühl mit „ Istdennmalwiedergarnichtspassiertesprit“ ein. Diese depressive Stimmungslage entspricht nicht der Realität, und um dafür einen Beweis zu finden, dass sich alles und zu jeder Zeit verändert, erfindet der Künstler eine Geschwindigkeitsanlage. Bildlich eingefroren und in einer Reihung präsentiert, ist Zeit wahrnehmbar. So einfach. Die Fotografien zeigen uns die selbst gebastelten Objekte: eine Geschwindigkeitsanlage aus diversen Elektrobausteinen konstruiert, eine Lichtschranke mit Sendeeinheit, eine Empfangsstation. Eine Digitalkamera, die mit dieser Anlage verbunden ist, erstellt bei jeder Unterbrechung der Lichtschranke, sprich, wenn Panse sich im Raum bewegt, ein Foto. Auf den Fotos ist nicht nur das Datum und die Uhrzeit angegeben, sondern auch die Geschwindigkeit in Stundenkilometern, in der er die Schranke passiert. Es lassen sich die einzelnen alltäglichen Tätigkeiten in die unterschiedlichen Schnelligkeiten einteilen, mit denen sie ausgeführt werden. Die Kameraeinstellung zeigt Tino Panse immer ausschnittsweise, den Kopf nie. Das reduziert den direkten Bezug auf eine bestimmte Person und verstärkt die Allgemeingültigkeit. Dazwischen sind Raumansichten gestellt, die eine verregnete Fensterscheibe zeigen, eine brennende Lampe, eine andere Form von Zeitbildern, die einen momentanen Zustand vermitteln. So können wir zum Bespiel am Regen festmachen, dass dies kein Dauerzustand ist und somit auch hier Veränderungsmomente übermittelt werden: subtil, als eine melancholische Metapher. Zu dieser Installation gehören Gouachen, die in ihrer visuellen Reduzierung Stimmungen vermitteln, die sprachlich unfassbar bleiben, aber auch im Zusammenhang mit den Fotos keine sprachliche Erläuterung benötigen.

Für die Gruppenausstellung bis dato unbekannt, die in der Städtischen Galerie Villingen-Schwenningen 2001 Kunststudenten der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgarts die Möglichkeit gab, sich erstmals, wie es der Titel andeutet, einem Publikum zu präsentieren, entstand die 30-teilige Foto-Arbeit mit dazugehörigen Texten Klinkenputzen. Panse verdoppelte die Idee des Unbekanntheitsgrades und transportierte Hausbewohner über ihre Haustürklinken und Äußerungen in eine Kunstinstitution hinein. Er erwandert sich die Stadt und fragt die einzelnen Hausbesitzer, ausgerüstet nicht nur mit Putzmitteln, sondern auch mit einem offiziellen Schreiben, ob er ihre Klinken putzen darf.

Die Redewendung ist ein Synonym für den Beruf des Vertreters, der von Tür zu Tür geht, um Ware zum Verkauf anzubieten. Die Redewendung spielt scherzhaft darauf an, dass die von Tür zu Tür ziehenden Vertreter die Klinken allmählich blank gewetzt haben. Panse verwendet den Begriff wörtlich. Er putzt Klinken und erstellt von dieser Arbeitshandlung ein Vorher- und Nachher-Foto. Dazu sind die Tagebuchaufzeichnungen gestellt, die neben den Reaktionen erboster Hausbewohner auch den jovialen Brief des ortsansässigen Pfarrers dokumentieren. Die Kunstwissenschaft kennt für künstlerische Arbeiten dieser Art mehrere Begriffe: Kontextkunst, situative Kunst, Performance etc. Dementsprechend gäbe es auch Vorbilder zu nennen, die die künstlerische Sozialisation des Künstlers geprägt haben. Zu einer Ausbildung gehört die Kunstgeschichte und damit, die nicht immer schmerzfreie Erfahrung zu erleben: niemand erfindet immer alles neu.
Bei einer Debütantenausstellung soll man all diese Verweise mit den Arbeiten des Debütanten vergleichen, um dem nun in den Beruf entlassenen Absolventen ein Zeugnis auszustellen. Mit dieser Ausstellung wird das eigene, ständige Überprüfen der Positionierung einer Halböffentlichkeit vorgestellt, die Ausstellungsräume sind zwar noch im sicheren Terrain der wohlbekannten Akademie, adressiert an die LehrerInnen und KollegInnen. Ein Raum muss alleine mit eigenen Arbeiten bespielt werden. Die Frage ist, ob dies der Moment ist, wo das Scheitern, das als ein wesentlicher Aspekt zur Ausbildung dazu gehört, erstmals nicht mehr möglich ist. Dies zu beantworten ist dann auch nicht mehr Aufgabe des Künstlers, sondern die der Betrachter.

Es ist der Zeitpunkt, wo wir nicht nur Fragen an die einzelnen Arbeiten stellen, sondern auch übergreifende Fragen nach einer Entwicklung innerhalb der Werke, nach dem roten Faden, nach der Qualitätssteigerung oder nach dem Charakteristischen. Insofern sei zum Schluss die jüngere Arbeit Freiraumpflege der Analyse unterzogen, verbunden mit all diesen Fragen. Wie in all den anderen Arbeiten findet sich auch hier die präzise Wahrnehmung eines bekannten Umfeldes. Immer wieder passiert Tino Panse einen so genannten Un-Ort, der sich am Rande einer Stadt befindet, für den es keinen Bebauungsplan gibt. Wir kennen alle diese Orte, die als Müllhalde benutzt werden, als „Spielplatz“ für Jugendliche, als Rückzugsort. Die Vorgehensweise von Tino Panse kennen wir nun schon. Er achtet auf die Veränderungen: „Geht man diese Orte häufiger an, so fallen einem ständig die Veränderungen auf”, schreibt er zu der Videodokumentation Freiraumpflege von 2006. Das eingangs formulierte Gefühl Istdennmalwiedergarnichtspassiert ist also von unseren Aufmerksamkeitsbedingungen abhängig.

Panse beobachtet ein Jahr lang einen dort abgelegten Teppich. Im Frühjahr 2006 ist er, eingerollt, dort abgelegt worden. Panse beschreibt in einer Foto- und Filmdokumentation die Geschichte, die sich anhand der veränderten Lage erzählen lässt. Nach Tagen fand er ihn ausgebreitet vor: Er gewann die Aufmerksamkeit anderer und wurde benutzt. Als er dann nach einem Jahr, im Frühjahr dieses Jahres, beinahe unkenntlich durch Laub bedeckt, im Umfeld verschwand, griff er ein. Ausgerüstet mit einem Stromaggregat und Reinigungsmitteln putzte er den Teppich vor Ort und integrierte ihn in den Freiraumteppich aus Laub zwischen Birken.

Für denjenigen, der zu diesem Zeitpunkt die Situation vor Ort sieht, ist der künstlerische Eingriff nicht unbedingt als ein solcher wahrnehmbar, es sei denn er war auch wie Panse, der aufmerksame Beobachter. Erst durch die Dokumentation, die Gegenüberstellung aller Zustandsbeschreibungen, seien es filmische oder fotografische mit der Konzeption ist die Übertragung in eine künstlerische Aussage erfolgt. Zur künstlerischen „Leistung“ gehört alles: die scharfe Beobachtung, das Abwarten, die Veränderung, der Eingriff, die Putzaktion und die Dokumentation. Tino Panse kann geduldig sein, was sich in all seinen Arbeiten zeigt. Abwarten können, was sich verändert, ist eine nicht zu unterschätzende Eigenschaft. Diese Arbeitsmethode schließt ein, dass es sicher immer wieder auch Projekte geben wird, die nicht zu einer Ausführung gelangen, die alleine in seinem Ideenbuch fixiert bleiben – auch dies ist Teil des künstlerischen Alltags.